„Das war überhaupt nie so!“ – Gedanken zum Schreiben historischer Romane

Gestern Abend bin ich über eine sehr interessante Diskussion zwischen einer der renommiertesten Expertinnen, was die Kostümgeschichte des 18. Jahrhunderts angeht, und der Kostümdesignerin der Serie „Outlander“ (Terry Dresbach) gestoßen, und zwar hier. Konkret ging es darum, dass sich einige Kostüm-Puristen über die „unauthentischen“ Elemente der Filmkostüme aufgeregt hatten, und daraus eine sehr angeregte (und zivilisierte!) Unterhaltung entsprang, in der beide Seiten ihren Standpunkt klarmachten und man am Ende mit neu gewonnenem Respekt für die Gegenseite von Dannen zog. Das geht anscheinend auch im Internet.

Ich liebe Filmkostüme abgöttisch und war froh, dass Terry Dresbach so ausgiebig zu Wort kam und mit so viel Respekt behandelt wurde. Ich bin kein riesiger Fan von „Outlander“ an sich, aber ich bewundere die Kostüme in der Serie sehr. Daher war die Diskussion für mich zusätzlich spannend, vor allem, weil ich beim Lesen unwillkürlich zustimmend nicken musste: Filmkostüme sind von vielem abhängig: Von der Vorstellung der Produzenten, der Vorstellung des Regisseurs, vom Budget. Vor allem aber sollen sie eine Geschichte erzählen, und zwar eine Geschichte über die Figur, die in dem Kostüm steckt. Und da geraten Kostümdesigner schnell in das Dilemma, das auch Autoren historischer Romane früher oder später (eher früher) ereilt: Was ist historisch belegt? Was ist historisch plausibel? Wie weit kann ich mich aus dem Fenster lehnen, ohne die Glaubwürdigkeit meiner Geschichte zu opfern?

„Historisch belegt“ versus „historisch möglich“ – keine einfache Entscheidung. Denn bei aller Recherche (und ich recherchiere viel und ausgiebig) kann man a) nicht alles wissen und b) sind auch die besten historischen Quellen oft genug subjektive oder idealisierte Darstellungen der Geschichte, die nur einen sehr kleinen Teil des Weltgeschehens widerspiegeln. Und selbst wenn ich alle Fakten habe, hilft mir das nur bedingt weiter. Denn Fakten erschaffen keine Geschichte, so wie auch ein historisch akkurat reproduziertes Kleid nicht automatisch eine Geschichte erzählt. Im Notfall muss man eben schauen, wie die Fakten aussehen, und ob das, was man machen möchte, denn theoretisch machbar gewesen wäre.

Die wunderbar e Courtney Milan sagt, sie schreibe Romane, die „historisch möglich“ seien, und diese Herangehensweise erzeugt vermutlich die besten Ergebnisse. Allerdings, und da wird es dann zweischneidig, darf man sich natürlich nicht zu viele Freiheiten erlauben, denn das kann ebenfalls schnell nach hinten losgehen. Wenn z.B. Figuren aus dem Mittelalter zu modern und aufgeklärt wirken, fragt man sich als Leser unwillkürlich, ob die Geschichte dann nicht auch einfach in London 2016 hätte spielen können. Schlimm genug, dass der Leser somit nicht in den Roman hineinfindet, er hat ja auch recht. Wo wir dann wieder beim Dilemma wären: Warum historische Romane schreiben, wenn man es dann nicht 100% richtig machen will? Sekt oder Selters, bitteschön. Ja, auch Autoren bekommen solche Kritik von Geschichts-Enthusiasten zu hören.

Im Endeffekt läuft es wahrscheinlich wie vieles im Leben darauf hinaus, dass man die Regeln kennen muss, um sie brechen zu können. Wenn man historische Romane schreibt (oder historische Kostüme entwirft), sollte man sich so viel Wissen wie möglich zu dem Thema aneignen. Über die Menschen damals, die Denkweisen, aber auch profane Kleinigkeiten wie die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Dampfschiffes 1890. Nur dann kann man fundierte Entscheidungen treffen, wenn die Recherche erfolglos bleibt, oder aber ein ungewünschtes Ergebnis bringt, das dem Autor im schlimmsten Fall die Handlung zerschießt. Bei manchen Dingen muss man einfach raten, oder auf sein Gefühl und dem gesunden Menschenverstand vertrauen. Vor allem, und da sind wir wieder bei dem Wort, muss es plausibel erscheinen.

Einen historischen Roman zu schreiben, bedeutet viel Arbeit. Darüber sollte man sich vorher im Klaren sein. Wer die Mühe scheut, ist bei einem zeitgenössischen Roman sicher besser aufgehoben.

Man sollte sich sicher fühlen in der Epoche, in der man schreibt. Das geht nur durch oft mühsame Recherche. Der Vorteil ist, je sicherer man sich fühlt, desto mehr und müheloser färbt das auf den Roman ab. Desto eher wird man auch bei Handlungselementen, bei denen man sich aufs Glatteis begibt, die sinnigste und logischste Lösung finden.

Schlussendlich bleibt wohl noch zu sagen, dass wir Autoren Geschichtenerzähler sind, keine Historiker. Wir schreiben keine Geschichtsbücher, so wie Kostümdesigner keine bloßen Reproduktionen schaffen.

Wir sind Kreative. Mit dieser Kreativität müssen wir verantwortungsvoll umgehen, wenn wir Geschichte auferstehen lassen. Solange wir uns darüber im Klaren sind, wird der Rest ganz von selbst kommen.

Kommentare

  • 22. Juni 2016

    Sehr schöner Beitrag. 😀

    „Schlussendlich bleibt wohl noch zu sagen, dass wir Autoren Geschichtenerzähler sind, keine Historiker.“

    Genau das war für mich irgendwann ein Problem. Einerseits, weil es einfach sehr langwierig und ermüdend sein kann, zu recherchieren, andererseits kann es auch mal blockieren, wenn sich ein Fakt partout nicht recherchieren lässt — aber das Schlimmste war für mich, dass ich irgendwann zu viel recherchiert hatte und dann daran scheiterte, Dinge im Sinne der Geschichte schreiben zu wollen, die halt historisch null passen. Und da sind starke Frauenfiguren oder Aufklärung schon die offensichtlichsten Grenzen.

    Vielleicht krankt das Genre aber auch an der eigenen Bezeichnung, weil „historisch“ in den Köpfen zumeist mit „historisch akkurat und möglichst wahr“ gleichgesetzt wird, was ja wiederum an sich schon recht utopisch ist wie du unter a) und b) schon deutlich gemacht hast.
    Wie wäre es mit Vergangenheitsroman synonym zum Gegenwarts- und Zukunftsroman? (Wobei es vermutlich immer Leute geben wird, die auf authentisch klopfen. Aber das sind auch die, die Romane als Sachliteratur verkennen, fürchte ich.)

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  • 22. Juni 2016

    Toller Artikel! Den Begriff „historisch möglich“ werde ich bestimmt demnächst mal zitieren 🙂

    Zit,
    das finde ich sehr schade, dass Du Dich von den Fakten abschrecken lässt. Bist Du sicher, dass sich das immer dermaßen ausschließt?
    Ich bin sowieso immer sehr quellenkritisch, andererseits schaue ich immer sehr genau auf die Lücken in den Überlieferungen. In der Fachliteratur wird, je nach Thema und Fachgebiet (und Wissenschaftler) so etwas auch gerne mal als eindeutiges Szenario geschildert – wenn man sich die Quellenlage ansieht, ist es jedoch teilweise zu 90 % Spekulation.

    Und wenn ich mal einen abweichenden „Fakt“ finde, werde ich auf eine neue Weise quellenkritisch: ich überlege, ob es einen Grund dafür gibt, dass die Quellen etwas aussagen, was meinem Plot widerspricht. Gibt es eine logische Erklärung, warum diese Diskrepanz zwischen dem, was ich erzählen will, und der Quellenlage besteht?
    Gut, ich hatte diesen Fall mit einer so starken Abweichung erst einmal, da ging es um die Charakterisierung einer Person und das ist immer schwierig, von Primär- bis Tertiärquellen…

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  • 23. Juni 2016

    Ja. Mich schreckt einfach der Rechercheberg ab — oder sollte ich lieber Rechercheloch sagen? —, dem ich mich dann so ausgeliefert fühle, weil er kein richtigen Anfang und auch kein Ende hat. Sobald ich mit der Recherche beginne, habe ich das Gefühl als würde alles auf mich einstürzen, und manchmal komme ich auch einfach an meine Grenzen, wenn Literatur für mich nicht beziehbar ist oder Informationen nur in fremden Sprachen verfügbar sind (oder ich auch, schlicht und ergreifend, zu doof bin). Davon abgesehen, dass mir auch irgendwo die Grundlagen/ Erfahrung fehlen, je nach Fachgebiet, um da wirklich quellenkritisch vorgehen zu können. Natürlich könnte man sich das alles anlesen. Nur ist das nicht Sinn der Sache für mich, dass ich zig Bachelorstudiengänge bräuchte, um einen einzigen Roman zu schreiben, nur weil sich der Herr Hauptcharakter gern im napoleonischen Frankreich bewegen würde und verkappter Alchemist ist. Aber das führt jetzt auch sehr vom eigentlichen Thema weg.
    Als Fantasyschriftsteller hat man, glücklicherweise, trotz allem doch noch ein bisschen mehr Freiraum als reine Histo-Schreiber.

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    • 25. Juni 2016

      Ich weiß jetzt gerade nicht, was genau Du meinst. Vielleicht ist das Problem bei Deinen Recherchen gewesen, dass die Autoren der Bücher eben keine konkreten Angaben über ihre Quellen gemacht haben?

      Eigentlich muss man sich vor allem anschauen, was für Quellen es gibt und was der Adressat ist. Wenn es beispielsweise vor allem Gerichtsakten aus dem 17. Jahrhundert sind, ist das ein bisschen mit Vorsicht zu genießen. Wenn es nach der Quellenlage geht, dann sind alle Piraten in den Dienst gepresst worden *schnief* und sie wollten das doch gar nicht. In vielen Fällen wird das zugetroffen haben, es wurden schon gerne Seeleute in den Dienst gepresst. Aber Aussagen vor Gericht sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie eben vor allem eine mildernde Wirkung auf das Urteil haben sollen.

      Und so hangelt man sich eben dadurch. Bis man irgendwann auf eine Aussage eines Autors trifft „So und so ging es da zu, so und so waren die organisiert“ – und sich denkt: ha. Woher willst du das denn bitte wissen? Als Quellen gibt es doch nur A und B und vielleicht C, wenn es authentisch ist, aber das bietet keinen Anlass zu solchen Aussagen.
      Und dann hat man so ein bisschen die Meinung des Autors erfasst (weil diese Ansichten eben nur Spekulation sind) und kann die folgenden Aussagen dieses Buches genauer auf den Prüfstand stellen…

      Ich kann es schwer beschreiben. Ich habe auch manchmal viele Fragezeichen in meinen Aufzeichnungen oder kommentiere meine Mitschrift mit einem „Stimmt das denn wirklich???“.
      Oder es gibt Sachen, die anscheinend so elementar (oder unwichtig) sind, dass man sie nicht findet. Ich suche immer noch nach dem Kriterium, was für ein Schiff Doppelwachen hatte und welche 4-Stunden-Schichten schoben. (Größe? Keine Ahnung, ich finde es ja nicht. „Manche Schiffe…“ Danke, schön, aber welche, verdammt??)

      Aber wenn man sich lange genug durchbeisst, dann kommt irgendwann ein Moment, in dem man auf einmal den Durchblick gewinnt. Man liest ein Buch und kann die Informationen direkt einordnen (Meinung des Autors, unbelegter Fakt, wo finde ich näherere Angaben zu diesem korrekten unbelegten Fakt). Alle Informationen zu Gesellschaft, Kunst, Militär, Kriminalität und so weiter verknüpfen sich auf einmal. Man hat das Gefühl, es gibt ein genaues Bild, dass man auf einmal sehen kann, und hält alle Fäden in der Hand. Person X soll an Ort Y? Ja, klar, kein Problem, dazu braucht es folgende Bedingungen…
      Person A soll B machen? Oh, das geht nur unter Verdrehung aller Korrektheit, dann ändert man das lieber und er macht C, das ist sowieso besser, weil es den Nebenplot beeinflusst…
      Es ist ein ganz seltsames Gefühl. Als hätte man auf einmal die Beherrschung eines Instrumentes gelernt. Ich kann es schwer beschreiben, aber es ist einfach toll, und es lohnt alle Mühen.

      Welche Zeit hattest Du Dir denn ausgesucht? Vielleicht findest Du doch mehr recherchierende Bekannte, die Dir mit Literaturtipps oder Recherchieren helfen würden, als Du denkst 😉

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  • Raik
    23. Juni 2016

    Ach ja, das Kreuz mit der Recherche und dem Wunsch, möglichst korrekt zu sein.

    Erst einmal: Ich erwarte als Leser schon, dass der Autor gewissenhaft recherchiert. Ich habe Romane, in denen „irgendwie das Flair“ von Zeit XY verwendet wird, ziemlich über. Es geht nicht um Fehler, aber doch darum, dass bestimmte Epochen idealisiert werden und ihnen auf dem Weg in meinen Augen eher etwas genommen wird, als ihnen Freiheiten zu schenken.
    Auf der anderen Seite: Nein, wir schreiben keine Geschichtsbücher – und selbst wenn wir sie schreiben würden, dürften wir nicht davon ausgehen, dass alle Hintergründe korrekt sind. Denn das setzt voraus, dass wir zu 100 Prozent zuverlässige Quellen haben. Je weiter wir zurückgehen, desto schwammiger wird das, was wir „Geschichte“ nennen.
    Wenn man einmal zurückschaut und sich überlegt, wie jung die Geschichtsforschung eigentlich ist, wird auch schnell klar, warum es in so vielen Belangen klaffende Lücken in unserem Wissen über das Vergangene gibt und wieso viele gelehrte Geister sich auch in Einzelbelangen streiten.
    Bestes Beispiel: die berühmte Schlacht im Teutoburger Wald. Bis heute steht dieser Begriff in Verbindung mit den Varusschlachten in den Schulbüchern. Dabei ist längst gesichert, dass die Schlacht dort mit Sicherheit nicht stattgefunden hat. Tatsache ist aber, dass das Schlachtfeld bis heute nicht mit 100 prozentiger Sicherheit identifiziert wurde und mehrere Standorte infrage kommen. Alle bis auf den Teutoburger Wald, obwohl man vorher Jahrzehnte davon ausgegangen ist, dass dies und nur dies der Standort sein kann.
    Wenn wir trotz tausendfacher Funde und der sehr guten Berichterstattung der Römer nicht einmal ein Schlachtfeld finden können, auf dem zweieinhalb Legionen gefallen sind, kann man sich ausrechnen, wie schwer es ist, aus den Bruchstücken, die wir besitzen, korrekte Geschichte zu interpretieren. Immer wieder tauchen neue Funde auf, immer wieder wird die Geschichte neu geschrieben – und bei allem Rechercheeinsatz kann es uns passieren, dass das, was wir als Wahrheit in unsere Bücher einbringen, 5 Jahre später wiederlegt wird.
    Ich möchte damit auf keinen Fall sagen: „Scheiß auf die Recherche. Lass uns den Römern Steigbügel geben und Kartoffeln auf den mittelalterlichen Mittagstisch setzen“. Aber doch, dass ein historischer Roman immer nur so korrekt sein kann wie die Quellen es zulassen. Die Lücken müssen wir stopfen. Das kann in die Hose gehen oder sich viel später als Humbug erweisen. Aber wie Romy schon sagt: Solange unsere Spekulation plausibel ist, wird alles gut. =)

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